Verlorene Zeit
Das Ticken der Pendeluhr. Das Knacken des Kaminfeuers. Das Knarzen der Fichten vor dem Haus. Die leisen, gleichmäßigen Atemzüge meiner schlafenden Großeltern. Geräusche zur Mittagszeit aus längst vergangenen Tagen. Es waren Stunden der friedvollen Langeweile. Wenn meine Großeltern Mittagsschlaf hielten, mussten meine Schwester und ich uns still verhalten. Also las ich zum hundertsten Mal das einzige Kinderbuch im Haus: Die Konferenz der Tiere. Ich kämmte die Teppichfransen im Wohnzimmer. Ich schob die Figuren auf dem elektrischen Schachbrett hin und her. Es gab keine Kinderspiele im Haus meiner Großeltern. Mein Großvater brachte uns früh Schach bei und das japanische Strategie-Spiel Go. Manchmal war es frustrierend gegen einen Schachmeister anzutreten, der in Russland auf Turnieren gespielt hatte. Wenn er gegen mich verlor, dann nur, weil er verlieren wollte. Um mich in die hohe Kunst des Endspiels einzuführen.
Es war ein Haus von Erwachsenen und dennoch der beste Kinderspielplatz, den man sich denken konnte. Wir hatten keine Kinderkassetten oder Puppen dort, aber unsere Großeltern schenkten uns etwas, das viel wertvoller war: Zeit. Und einen Ort, an dem wir bedingungslos geliebt wurden.
Auf ausgedehnten Spaziergängen mit meinem Großvater im Kiefernwald der Südheide, auf denen er unsere Beobachtungsgabe und unseren Respekt vor der Natur schulte. Die lebendigen Schilderungen meiner Großmutter, die von einer fernen Kindheit am Stettiner Haff erzählten. Manchmal durften wir ihren Schmuck anlegen und wenn mein Großvater im Garten seine Blumen pflegte, erzählte sie uns Geschichten dazu. Dann tat sich eine geheime Welt auf, die so gar nicht zu meiner gemütlichen Großmutter passen wollte. Eine Welt der Ballsäle im Berlin der frühen 30er Jahre, wo noch Telefone auf den Tischchen standen, mit denen die Herren die Damen anriefen, um sie zum Tanz zu bitten. Eine Welt, in der meine Großmutter nachts von Bar zu Bar zog, auf der Suche nach der schmissigsten Tanzband, nach dem unterhaltsamsten Cabaret.
Das kleine Holzhaus meiner Großeltern lag mitten im Wald, wo es weder Straßen noch Laternen gab, nur Sandwege und Wochenendhäuser. Wenn wir von der Teerstraße abbogen, durften wir manchmal auf dem Schoß meines Großvaters das Auto durch die Schlaglöcher steuern. Auf den Simsen und Schränken im Haus fanden sich geheimnisvolle Schätze, die sie von ihren Reisen mitgebracht hatten. Ein geschnitzter Buddha aus Thailand, goldenen Fanfaren aus dem Jemen, Papyrus aus Ägypten.
Morgens sprangen wir durch das Schlafzimmerfenster in den Garten und tauchten ein in das wilde Terrain der Büsche und Wiesen. Mein Großvater ließ seinen Waldgarten frei wachsen, er beschnitt und pflanzte nur soviel, dass jeder menschliche und tierische Bewohner auf seine Kosten kam. Von ihm lernte ich, einen Steingarten anzulegen, die Blaubeerbüsche zu beschneiden und Tierfährten zu lesen. Als Dank fing ich Molche für seinen Teich, die jedoch nie lange blieben.
Als das Haus abbrannte, war es, als sei ein Familienmitglied gestorben. Der fünf Jahre alte Kühlschrank hatte sich entzündet und das Feuer war sofort auf die Holzwände übergesprungen. Das Haus brannte bis auf das Fundament nieder. Meine Großeltern blieben zum Glück unverletzt. Am Tag nach dem Brand lief ich mit meinem Onkel durch die verbrannte Ruine, es hatte geschneit und sah friedlich und furchtbar zugleich aus. In einem verkohlten Regal fand ich die silberne Metalldose mit den Schachfiguren meines Großvaters. Als ich den Läufer aufhob, zerfiel er unter meinen Fingern zu Asche.
Ich habe wenige Erinnerungsstücke an meine Großeltern wegen dieses Brandes. Einen Holzelefanten mit verkohltem Rüssel. Ein Bernsteinarmband. Aber ich trage sie in mir. Sie sind mein Fundament, meine Wurzeln. Sie haben mich so sehr geprägt, dass kein Tag vergeht, an dem ich sie nicht in meinen Verhaltensweisen oder Vorlieben wieder erkenne.
Unsere Kinder haben vier ihrer fünf Großeltern seit elf Monaten kaum gesehen. So viel verlorene, kostbare Lebenszeit. Mein Vater erzählte mir neulich am Telefon, dass zwei Männer aus seinem Bekanntenkreis innerhalb kürzester Zeit an Covid-19 verstorben seien. Sie hatten sich vermutlich nach Familientreffen angesteckt. Also werden wir auch weiterhin auf Abstand bleiben, um sie zu schützen. Aber wir zählen die Tage, bis wir uns wiedersehen. Denn es gibt nichts, was das kostbaren Band zwischen Kindern und ihren Großeltern ersetzen kann.
Ein Kommentar
Mina
Der Text trifft mich unvermutet, so viele Parallelen zu den Erinnerung an meine Großeltern – vom Mittagsschlaf meines Opas auf dem Fußboden an der Heizung, dem Lernen klassischer Brettspiele wie Schach und Mühle, dem Haus (fast) im Wald, bis hin zur täglichen Versorgung des zahlreichen Geflügels und der Kaninchen. Fast jede Ferien haben wir Kinder in der kleinen und doch so vielfältigen Landidylle verbracht.
Nun ist mein Opa seit einigen Jahren verstorben und der Kontakt zu meiner Oma aktuell auf das Telefon beschränkt. Da fehlt etwas. Ich denke, ich rufe sie am Wochenende mal wieder an und berichte ihr von der glücklichen Erinnerung.