Das große Krabbeln
Ich habe einen neuen Job. Er ist zwar unbezahlt und wird nur zwischen Küche und Wohnzimmer ausgeübt, in den Augen unserer Kinder aber ist er unverzichtbar: Ich bin ab jetzt Ameisen-Umsiedlerin. Wir haben die Krabbeltiere jedes Frühjahr im Haus, aber in diesem Jahr sind es besonders viele. Sie wuseln über den Küchentisch, den Kühlschrank, die Anrichte und auch auf dem Sofa sind schon welche gesichtet worden. Die Aufgabenverteilung ist klar: die Kinder beobachten, an welcher Stelle die Ameisen ins Haus kommen, ich sammele die Tiere ein und Friedolin macht die Löcher dicht. Dieses Mal habe ich allerdings den Fehler gemacht, den Kindern von der Ameisen-Umsiedlerin zu erzählen. Die wird immer dann gerufen, wenn Ameisen-Nester einer Straße weichen müssen. Die Ameisen-Umsiedlerin verpackt dann das Nest samt Arbeiterinnen, Königin und Puppen und zieht es an einen sicheren Ort um. In dem Nest der Roten Waldameise leben zwischen 100 000 bis zu 1 Million Ameisen. Trotzdem fällt es den Ameisen sofort auf, wenn einzelne Individuen nach dem Umzug fehlen. Sie laufen dann mehrere hundert Meter zurück, um die fehlenden Ameisen zu suchen und zum neuen Nest zu führen. Seitdem die Kinder das wissen, muss ich jede Ameise mit Samthandschuhen anfassen und im Garten frei lassen, weil ihre Freundinnen bestimmt schon auf der Suche nach ihr sind. Staubsaugen darf ich eigentlich nur noch, wenn vorher der Fußboden ausgiebig nach Ameisen abgesucht wurde. Denn jede Ameise ist überlebenswichtig für das Volk.
Ich solle Backpulver ausstreuen, sagt meine Mutter zu unserer Ameisenplage. Das ist ja ein beliebtes Hausmittel gegen Ameisen. Aber auch ein grausames. Die Ameisen nehmen das Backpulver in sich auf und platzen. Das steht also nicht zur Debatte. Eine sanftere Methode sind Lavendel oder Thymian-Blüten. Die ätherischen Öle halten die Ameisen auf Distanz. Im Garten sind sie ja wahnsinnig nützlich: sie durchlüften den Boden, verteilen Pflanzensamen und verwerten Abfälle. Außerdem schützen sie Bäume vor Schädlingen. Welchen Nutzen sie in unserem Haus haben, konnte ich noch nicht heraus finden. Vielleicht sammeln sie die Zuckerkörner auf, die der Fünfjährige manchmal heimlich vor der Küchentür verstreut, damit sich die Ameisen vor ihrem Umzug noch etwas stärken können.